“Egal, was die Zukunft bringen mag. Eines ist sicher: Es wird einen Mord geben!!!“
Mit diesen Worten habe ich den Teilnehmern auf der Beyond Storytelling Konferenz in Hamburg meine Session gepitcht. Anstatt einen Vortrag zu halten, habe ich ein Experiment gewagt und die Teilnehmer zu einem kollaborativen Storytelling Game mit dem Titel “Sherlock Holmes and the things of tomorrow” eingeladen.
Einen Mordfall in der Zukunft lösen
Das Spiel versetzt die Teilnehmer in das Jahr 2100. In mehreren Spielrunden gestalten die Teilnehmer zunächst einen fiktiven Tatort mit spontan ausgedachten Hinweisen und Objekten. Anschließend schlüpfen sie in die Rolle von Detektiven. Sie kommen an den Tatort zurück und versuchen aus den vorhandenen Objekten und Hinweisen die Geschichte des Mordes zu rekonstruieren. Im Laufe des Spiels imaginieren die Spieler dabei Geräte, Produkte und Verhaltensweisen, die es erst in der fernen Zukunft geben wird. Zum Beispiel erdachte eine Spielgruppe ein Gedankenfolter-Gerät, das Menschen in den Suizid treibt. So entsteht ein spielerischer und intuitiver Austausch über Zukunftstechnologien, den die Spieler in einer abschließenden Reflektionsrunde (dem Debriefing) vertiefen. In dieser letzten Spielrunde stellen sich die Spieler zwei Fragen: Welche Technologien haben ihren Mordfall maßgeblich beeinflusst? Und wie beeinflussen diese Technologien bereits heute ihre Arbeit oder ihr Leben?
Die Geschichte hinter dem Spiel
Ich habe mir das Spiel nicht ausgedacht, sondern lediglich eine existierende Mechanik in die Zukunft versetzt, um sie als ein spielerisches Foresight-Tool zu testen.
Das Originalspiel habe ich vor zwei Jahren auf der Future of Storytelling Konferenz in New York unter der Anleitung von Lance Weiler zum ersten Mal gespielt. Lance Weiler ist Unternehmer, Storyteller und Professor am Media Lab der Columbia Universität. Er hat das Forschungsprojekt geleitet, indem die Spielmechanik und das Originalspiel „Sherlock Holmes and the internet of things“ entwickelt wurde. Dieses Game spielt nicht in der fernen Zukunft. Vielmehr ging es darum, die Designprinzipien für kollaboratives Storytelling besser zu verstehen und eine Beschäftigung mit jetzt gerade aufkommenden Technologien zu inspirieren. In dem Video stellt Lance Weiler das Projekt vor und unter sherlockholmes.io findet ihr die Projekt-Dokumentation und alle Infos zum Papier-Prototypen des Spiels, der unter einer Creative Commons Lizenz im Netz verfügbar ist.
Ein Storytelling Game, um Zukunft zu denken und zu verstehen
Als ich das Spiel auf der Konferenz in New York zum ersten Mal gespielt habe, war ich total fasziniert. Zum einen, weil das Spiel einen “Mordsspaß” gemacht hat. Und zum anderen, weil ich sofort gedacht habe, dass in dem Spiel eine spannende Kreativtechnik steckt, um spielerisch die Zukunft zu erkunden und neue Ideen zu entwickeln. Und alles was dafür nötig ist, ist das Szenario in die Zukunft zu verlegen.
Es ist schwer über Zukunft zu sprechen
Diese Idee hat mich seitdem nicht mehr losgelassen. Denn ich habe immer wieder erlebt, wie schwer es Menschen fällt, sich über ihre Vorstellungen von der Zukunft oder gar über die Technologien, die diese Zukunft prägen, auszutauschen. Präsentationen über Zukunftstrends bleiben oft vage, abstrakt und emotional ungreifbar. Diskussionen über die Zukunft führen schnell dazu, dass Teilnehmer vor allem die Meinung verteidigen, mit der sie in die Diskussion gestartet sind. Und Innovationsworkshops blicken oft nur auf Probleme, dies es in der nahen Zukunft zu lösen gilt.
Auf der anderen Seite schaffen es Science Fiction Geschichten (wie Star Trek oder Black Mirror) greifbare, emotionale und erlebbare Zukunftsbilder zu erzeugen. Vielleicht erzeugt dieses Spiel eine ähnlich konkrete narrative Erfahrung, wenn die Spieler gemeinsam einen Science-Fiction Krimi erleben. Das war damals mein Ausgangs-Gedanke.
Ich hab’s probiert und auf zwei Ebenen dazugelernt
Über die letzten Monate habe ich mit dem Spiel experimentiert. Ich habe es mit mehreren Unternehmen gespielt und auch auf der Beyond Storytelling Konferenz als Workshop angeboten. Das habe ich dabei gelernt:
1. Das Spiel inspiriert neue Blickwinkel auf die Zukunft.
Ich habe das Spiel unter anderem mit den Mitarbeitern eines Software-Unternehmens und einer Werbeagentur gespielt. Die Software-Ingenieure haben schnell komplexe Technologien in ihre Kriminalgeschichten eingewoben. In einem Fall löste ein “Gedankenlesegerät” eine hitzige Diskussion über AI-Technologien aus in deren Verlauf sich die Spieler, die sonst in unterschiedlichen Teams arbeiteten, konkret über den Stand der Forschung ausgetauscht haben. Die Spieler der Werbeagentur entdeckten in ihrer Debriefing-Diskussion, dass auch hinter den ausgedachten Zukunftstechnologien reale Nutzerbedürfnisse steckten. Daraus hat die Gruppe den Schluss gezogen, dass die Beschäftigung mit diesen Bedürfnissen der Schlüssel sein könnte, um das Thema Digitalisierung als Agentur mitzugestalten. Und während des Workshops auf der Beyond Storytelling Konferenz sprach mich ein renommierter Zukunftsforscher an, weil die Spieler in neunzig Minuten intuitiv die Themen getroffen hätten, mit denen sich Polizei-Institutionen gerade in großen Forschungsprojekten beschäftigen.
2. Das Storytelling Game schafft einen besonderen Rahmen für Kollaboration
Neben den inhaltlichen Diskussionen, die das Storytelling Game anregt, erschaft es auch einen besonderen Rahmen für die Zusammenarbeit. Das Spiel erzeugt ein konkretes Szenario in dem die Teilnehmer aus vielfältigen Einzelideen zusammen eine konsistente Erzählung entwickeln und erzählen. Und während in Präsentationen, Diskussionen und auch in Workshops Meinungen schnell aneinandergeraten, übersetzen die Teilnehmer des Spiels abstrakte Konzepte (wie AI) ganz intuitiv und gemeinschaftlich in konkrete Ideen und Nutzungsszenarien. Und über dieses geteilte Erlebnis fällt es der Gruppe anscheinend leichter, Zukunftsvorstellungen im Anschluss an das Spiel zu reflektieren.
Neben den Storytelling Effekten spielen sicherlich die Designprinzipien, die das Team an der Columbia Universität aus dem Entwicklungsprozess abgeleitet hat, für das Spielerlebnis und die Kollaboration eine wichtige Rolle. Der Wechsel aus individuellen und gemeinschaftlichen Beiträgen zur Weiterentwicklung der Story sowie die bewusst gesetzten Zufalls-Momente sorgen dafür, das eine hohe emotionale Verbindung zu der Gesamtstory, die das Team entwickelt, entsteht – und eben nicht zu den eigenen Ideen, die jeder Spieler in die Geschichte einbringt. Denn je weniger Einzelne an ihren Ideen festhalten und sie verteidigen, desto leichter gelingt eine produktive Zusammenarbeit. Deshalb frage ich mich gerade, in wieweit die Designprinzipien und Storytelling Effekte auf andere Workshop Methoden übertragbar sind.
Aus Experten werden “Entdecker“
Noch habe ich die Effekte des Spiels nicht voll verstanden und möchte weiter mit dem Storytelling Game experimentieren. Deshalb freue ich mich über jeden, der Lust hat mit seinem Team oder seiner Abteilung einen Mordfall zu lösen. Bei Interesse schreibt mir an hello@growthbystory.de.
Ich freue mich darauf “Sherlock Holmes and the things of tomorrow” weiter zu erforschen. Denn jedes Mal, wenn ich das Spiel in einem Unternehmen gespielt habe, habe ich etwas Besonderes erlebt: Das Spiel macht aus Experten mutige Entdecker. Entdecker, die gemeinsam und spielerisch Neuland erforschen, ohne groß auf ihren Status zu achten. Und wenn die Storytelling Effekte sowie die Designprinzipien mir helfen neuen “Forschergeist” zu wecken, dann hat sich dieses Experiment bereits gelohnt.