Ein Überblick über zentrale Unternehmens-Narrative und ihrer Funktion
In aller Kürze für ganz Eilige: Nur der Mensch hat seit der kognitiven Revolution vor etwa 55.000 Jahren die Fähigkeit zum Geschichten erzählen. Von den Lagerfeuern der Steinzeit bis heute bildet Storytelling die Grundlage menschlicher Zusammenarbeit. Jede größere Unternehmung funktioniert nur, weil Menschen sich über geteilte Narrative organisieren. In diesem Artikel bekommst Du einen Überblick über zentrale Unternehmens-Narrative und ihre Funktion.
Denn klemmen die Geschichten einer Unternehmung, knirscht erst die Zusammenarbeit und dann der soziale Zusammenhalt. Um Unternehmen zu helfen, ihre Geschichten zu managen, gebe ich einen Überblick über zentrale Unternehmens-Narrative (wie Vision, Purpose oder Historie). Diese Erzählungen sorgen für Ausrichtung (Alignment) und soziale Stabilität. Und wer sich ihrer bewusst ist, kann das narrative Gewebe der Unternehmensrealität bewusster steuern und gestalten.
(Lesezeit min. 25min)
Von Anfang an lesen oder direkt reinspringen:
- Fiktionale Sprache: Grundlage menschlicher Zusammenarbeit
- Die drei großen Stammes-Erzählungen und ihr Funktion
- Die Bedeutung von Geschichten für Unternehmen heute
- Ausrichtung und Stabilität: Zentrale Unternehmens-Narrative und ihre Funktion.
- Unternehmensrealität als narratives Gewebe
- Quellenübersicht
1. Fiktionale Sprache: Grundlage menschlicher Zusammenarbeit
Eine eisige, sternenklare Nacht. In der Ferne heult ein hungriger Wolf. Dicht gedrängt, sitzen die Stammesältesten mit den Jägern am knisternden Feuer. Die Hände in den säuerlich riechenden Fellumhängen vergraben, lauschen die Alten gebannt der Erzählung eines jungen Jägers.
Mit zitternder Stimme berichtet er von der letzten Jagd. Am Rand der großen Schlucht hatten sie zwei Mammuts weiden gesehen. Eine Mutter mit ihrem Kalb. Mit ihren mächtigen Stoßzähnen pflügten die zotteligen Riesen durch den tiefen Schnee, ausgehungert auf der Suche nach etwas Moos. Langsam seien sie an das kleine Tier herangeschlichen. So nah dass sie dessen Atem hören konnten. Mit lautem Geschrei sind sie aufgesprungen, um das Muttertier abzulenken und das Kleine zu erlegen. Da ergreifen beide Tiere erschrocken die Flucht. Blind vor Panik rennen beide Tiere über Grad der Schlucht.
Auf dem Feuer brät nun saftiges Mammutfleisch. Schon morgen, beschließen die Ältesten, sollen alle Jäger an den Rand der Schlucht ziehen. Und wenn sie ein Mammut sehen, dann wissen sie, was zu tun ist…
Von den ersten Lagerfeuern bis heute erzählen Menschen einander Geschichten. Allein mit unseren Worten können wir Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in unseren Erzählungen lebendig werden lassen. Dabei ist das wirklich einmalige an unserer Sprache nicht mal, dass wir damit Informationen über Menschen oder Mammuts weitergeben können. Das wirklich Einmalige ist, dass wir uns über Dinge austauschen können, die es gar nicht gibt.
Soweit wir wissen, schreibt der Universalhistoriker Yuval Harari in seinem Buch „Eine kurze Geschichte der Menschheit“, kann nur der Mensch über Möglichkeiten spekulieren und Geschichten, Legenden, Märchen und Mythen erfinden. Viele Tiere- und Menschenaffenarten können miteinander kommunizieren, einander vor Gefahren warnen und sogar voneinander lernen. Aber nur der Mensch sagt: “Das Mammut ist der Schutzgeist unseres Stammes.“ (vgl. Harari (2018), S. 39) Nur der Mensch kann mit seiner Sprache Dinge erfinden und weiter erzählen, die gerade nicht real sind. Man könnte unsere Sprache, so Harari, auch als fiktive Sprache bezeichnen. (vgl. ebd.)
Die Fähigkeit zur fiktionalen Sprache hat der Homo Sapiens vor über 55.000 Jahren entwickelt. Und für Menschen sind Fantasiegeschichten keine Zeitverschwendung. Sich Märchen über Einhörner auszudenken und zu erzählen, hat unsere Vorfahren nicht von der Jagd abgehalten und damit ihr Überleben gefährdet. Ganz im Gegenteil: Es hat uns Menschen die beispiellose Fähigkeit verliehen, flexibel in großen Gruppen zusammenzuarbeiten. (vgl.ebd. )
Denn mit fiktiver Sprache können wir uns nicht nur Dinge ausmalen, die es nicht gibt. Wir können sie uns vor allem gemeinsam vorstellen, gemeinsam bewerten und gemeinsam angehen. Geschichten erzählen ist -so gesehen – die unumstößliche Basis menschlicher Kooperation. Darum nennt Harai den Zeitpunkt an dem diese Fähigkeit entstanden ist auch die kognitive Revolution der Menschheit.
2. Die drei großen Stammes-Erzählungen und ihre Funktion
In seinem Buch beschreibt Harari weiter drei Grundformen von Erzählungen, die es Menschen ermöglicht haben, in immer größeren Gruppen zusammen zu leben und zu arbeiten. Jede dieser Erzählformen hat eine andere Funktion für das Wissen, den Zusammenhalt, die Weltanschauung und die Kollaboration der Gruppe.
Ich nenne sie mal die drei großen Stammes-Erzählungen:
Erzählung | Gibt Menschen die Fähigkeit | Funktion |
1) Die Informations- geschichten „So treibt man ein Mammut in die Schlucht“ |
…große Mengen an Informationen über die Umwelt weiterzugeben | Ermöglicht die Planung und Durchführung komplizierter Handlungen zum Beispiel bei der Jagd oder der Herstellung von Werkzeugen. |
2) Klatsch & Tratsch „Er hat Essen gestohlen, jetzt muss er ohne Stamm überleben…“ |
…große Mengen an Informationen über soziale Beziehungen und soziale Regeln zu kommunizieren. |
Ermöglicht größeren Gruppen mit bis zu 150 Angehörigen sich zu organisieren und den Zusammenhalt sowie die Regeln innerhalb der Gruppe auszuhandeln. |
3) Mythen aus fiktiver Sprache “Das Mammut ist Schutzgeist unseres Stammes” |
…große Mengen an Informationen über Dinge zu kommunizieren, die gar nicht existieren, zum Beispiel Stammesgeister, Religionen, Staaten, Unternehmen oder Aktiengesellschaften. | Ermöglicht die Zusammenarbeit zwischen einer großen Zahl von Menschen, die einander nicht kennen. Ermöglicht rasche, mitunter radikale Veränderung des Sozialverhaltens durch die Veränderung der Mythen. |
(Eigene Übersicht, abgeleitet von Harari, Seite 40)
Der dritten Art von Erzählungen, den Mythen aus fiktiver Sprache, kommt eine besondere Rolle in der Menschheitsgeschichte zu. Angefangen von einem archaischen Stammesverband über die antike Stadt bis zur mittelalterlichen Kirche oder einem modernen Staat: Jede größere Unternehmung ist fest in gemeinsamen Geschichten verwurzelt, die nur in den Köpfen der beteiligten Menschen existieren. Für Harari sind Unternehmen vor allem Glaubensgemeinschaften, die funktionieren, weil sie auf kollektiv geteilten Mythen basieren.
„Zwei Katholiken, die einander nie zuvor begegnet sind, verstehen einander ohne lange Erklärungen, weil beide glauben, dass es einen Gott gibt, der seinen Sohn auf die Erde geschickt hat.”
(Harai, S. 43)
Wie Religionen basieren auch Konzerne und Staaten auf gemeinsamen Mythen: Zwei Mitarbeiter von Apple, die sich noch nie gesehen haben, können über Kontinente hinweg remote zusammenarbeiten, weil sie beide an die Existenz des Unternehmens, an Aktien und Dollars glauben. Zwei Anwälte können deshalb effektiv kooperieren, weil sie sich auf Gesetze berufen können. Doch Gesetze sind nichts anderes als niedergeschriebene Geschichten, die von Regeln, Regelbruch und Konsequenz in einer Gesellschaft handeln. Konzerne, Religionen, Rechtsstaaten: Alle diese Dinge existieren nur in den Geschichten, die Menschen erfinden und einander erzählen.
„Götter, Nationen, Geld, Menschenrechte und Gesetze gibt es nicht – sie existieren nur in unserer Vorstellungswelt.“(ebd.)
Die Fähigkeit mit Worten eine gemeinsame Wirklichkeit zu erschaffen, ermöglicht es großen Gruppen von wildfremden Menschen effektiv zusammenzuarbeiten. Und anders als Schimpansen, können Menschen, die Abläufe und Bedeutung ihrer Zusammenarbeit radikal (wenn nicht gar durch eine Revolution) verändern, indem sie die Geschichten verändern.
3. Knirschen die Geschichten, knirscht das Unternehmen: Die Bedeutung von Geschichten für heutige Unternehmen.
Im Umkehrschluss bedeutet das aber auch, dass Zusammenarbeit immer dann schwierig wird, wenn die Geschichten fehlen, die eine gemeinsame Wirklichkeit erzeugen. Und was soll ich sagen: Genau diese Beobachtung habe ich in den letzten zehn Jahren meiner Beratungstätigkeit immer wieder gemacht.
Einzelne Teams und sogar ganze Unternehmungen geraten ins Schlingern, wenn ihre Erzählungen über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft durcheinander geraten. Wird diese Storytelling-Lücke nicht geschlossen, geht die innere Ausrichtung der Mitarbeiter – das vielbeschworene Alignment – verloren. Ohne gemeinsame Wirklichkeit verliert ein Team erst die Orientierung. Dann laufen Projekte aus dem Ruder, weil die Beteiligten sprichwörtlich nicht mehr an der gleichen Geschichte arbeiten. Schließlich kippt die Stimmung im Team und der soziale Zusammenhalt beginnt zu bröckeln. Ohne geteilte Geschichten – keine gemeinsame Wirklichkeit.
Doch es gibt immer Hoffnung ;-). Die gemeinsamen Geschichten lassen sich wiederzufinden, verändern und sogar neu schreiben. Doch dazu brauchen Team und Führungskräfte zumindest eine Ahnung davon, welche großen und kleinen Geschichten die Geschicke des Unternehmens gerade negativ beeinflussen.
4. Ausrichtung und Stabilität: Ein Überblick über zentrale Unternehmens-Narrative und ihre Funktion.
Für einen Workshop im letzten Jahr habe ich eine Übersicht zentraler Unternehmens-Narrative skizziert. Inspiriert von Harari zeigt sie die großen Erzählungen, mit denen Unternehmen ihre Zusammenarbeit organisieren. Damals diente die Darstellung lediglich als Startpunkt für eine erste Diskussion. Ich wollte dem Team einen Impuls geben, um gemeinsam herauszufinden, auf welcher Ebene die eigene Story gerade nicht klar ist.
Und weil das im Workshop gut funktioniert hat, möchte ich Euch die Darstellung gerne vorstellen. Ich bin gespannt auf Euer Feedback. Dabei ist mir mich wichtig zu sagen, dass diese Skizze vor allem Ausdruck meiner Beobachtungen und Erfahrungen ist. Ich erhebe keinerlei Anspruch auf Wissenschaftlichkeit. Umso mehr freue mich über alle Hinweise, die meine Beobachtungen stützen oder widerlegen.
Drei Zeiten. Zwei Funktionen. Die Aufteilung der Karte.
Ich habe die Übersicht zunächst in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufgeteilt. Es sind die Zeiteinheiten in denen Menschen Zusammenarbeit erleben. Aus den Erfahrungen der Vergangenheit ziehen Teams Schlussfolgerungen über Gegenwart und Zukunft. Das aktuelle Handeln ist auf die Gegenwart fokussiert, die sich bewusst oder unbewusst an einer gewünschten Zukunft orientiert.
Die zweite Aufteilung erfolgt nach der Funktion der Narrative. Ich trenne hier zwischen Ausrichtungs-Narrativen und Stabilisierungs-Narrativen. Ausrichtungs-Narrative haben die Funktion, eine Unternehmung auf zukünftiges Handeln auszurichten. Stabilisierungs-Narrativen festigen das soziale Miteinander. Im Folgenden möchte ich die einzelnen Narrative genauer erläutern. Als alter Star Trek Fan fange ich natürlich mit der Zukunft und den Ausrichtungs-Narrativen an.
4.1 Die Ausrichtungs-Narrative: Gemeinsam Zukunft gestalten
Alles unternehmerische Handeln ist in letzter Konsequenz auf die Zukunft ausgerichtet. Die Angebote eines Unternehmen müssen heute und in Zukunft auf Abnehmer treffen. Andernfalls verliert ein Business seine Existenzberechtigung. Für die Übersicht habe ich fünf Ausrichtungs-Narrative skizziert, mit den sich Menschen in Unternehmen über ihr künftiges Handeln abstimmen.
Produktgeschichten: Beschreiben. Erklären. Bauen.
Produkt-Geschichten sind die Basis-Erzählungen jedes Unternehmens. Egal ob physisches Produkt oder digitale Dienstleistung: Die Geschichten, die Menschen über Angebote erzählen, beantworten strukturell immer die gleichen Fragen: Was bietet/baut das Unternehmen für wen? Welches Problem löst das Produkt? Welches Bedürfnis wird befriedigt? Und wie unterscheidet sich das Produkt von alternativen Angeboten, die es auf dem Markt gibt?
Eine solche Produkt-Geschichte ist in ihrem Kern stets deskriptiv. Als Produkt-Pitch beschreibt sie Nutzen, Anmutung und Anwendung eines gegenwärtigen Produkts. Als Produktvision verstanden, beschreibt sie ein für die Zukunft geplantes Produkt. In beiden Fällen gilt: Je klarer Produkteigenschaften und Nutzen formuliert werden können, desto einfacher fällt es ein Produkt zu vermarkten und zu entwickeln.
“Die Leute verstehen unser Produkt nicht“. „Das Team hat keine einheitliche Vorstellung von dem Produkt“.
Ein unklarer Produkt-Pitch hingegen führt dazu, dass potentielle Verwender das Produkt nicht verstehen. Und eine unklare Produktvision lässt Entwicklungsteams aneinander vorbei arbeiten und Investoren ratlos zurück.
Über die letzten Jahre habe ich in vielen Teams geholfen, ihre Produkt-Geschichte zu Papier zu bringen. Die Entwicklung solcher Geschichten habe ich dabei als einen dreistufigen Prozess erlebt:
Zunächst sammelt das Team die zentralen Produktmerkmale an einem Whiteboard. Hierbei hilft zum Beispiel das Product-Vision Board von Roman Pichler. Anschließend gilt es diese Merkmale sinnvoll in einen Fließtext zu überführen. Ein anstrengender aber entscheidender Schritt bei dem dieses Formulierungsvorlage hilft.
Denn nur im Fließtext werden die kausalen Sinnzusammenhänge zwischen Produktmerkmalen und Nutzung deutlich. Darüber hinaus lässt sich ein Fließtext viel leichter mit einem erweiterten Stakeholderkreis diskutieren, verbessern und abstimmen.
Produkt-Geschichten entwickeln sich dabei parallel zur laufenden Produktentwicklung weiter. Es ist ein gegenseitiges Bedingungsverhältnis. Verändert sich das Produkt, verändert sich die Story. Verändert sich die Geschichte, verändert sich das Produkt.
Dabei ist ein Aspekt entscheidend: Die Produkt-Geschichte ist schnell umgeschrieben. Die Implikationen einer narrativen Veränderung auf die Handlungsebene sind schnell fundamental. Es ist leicht die Produkt-Vision eines Autobauers um die Worte „elektrischer Antrieb“ zu ergänzen. Auf der Handlungsebene bedeuten diese zwei Worte jedoch die Abkehr von etablierten Produktionsprozessen. Darum will jedes Wort bedacht sein…
Die Marken-Story: Von der Kunst des Framings
Echte Athleten greifen zu Nike. Bei Hunger gibt’s nur eins: Snickers. Die Marken-Story erzählt, wofür ein Unternehmen gesehen und erinnert werden will. Diese Geschichte erschafft den Bedeutungsrahmen, das Framing, indem ein Unternehmen sich und seine Produkte von der Außenwelt betrachtet sehen möchte. Und fokussiert als Leitnarrativ die werbliche Außenkommunikation.
Gerade in gesättigten Märkten oder Kategorien, in denen ähnliche Angebote konkurrieren, schafft die Markenstory eine emotionale Unterscheidbarkeit und gibt Käufern Orientierung. Besondere emotionale Wirkung entwickelt eine Marken-Erzählung dann, wenn sie konsequent aus einem Thema heraus erzählt wird. Je klarer das Thema (z.B. Hunger bei Snickers) gewählt ist, desto leichter fällt es, einem Publikum den gewünschten Bedeutungsrahmen für sich anzunehmen.
(Das konsistente Thema „Hunger“ gibt jeder Snickers Geschichte einen einheitlichen Rahmen)
Über die Zeit macht es eine konstante erzählte Geschichte Menschen einfacher, die Marke im Kopf zu behalten und sich im richtigen Moment für diese Marke zu entscheiden. Darüber hinaus stärkt eine klare Markenstory erfahrungsgemäß die innere Ausrichtung und Schlagkraft des Marketing-Teams. Denn allen ist klar, welche Geschichte das Team auf die Straße bringen will.
In einem früheren Blogpost habe ich mit dem Zusammenhang von Storytelling und Branding beschäftigt. Dabei habe ich zwischen Brand Storytelling und Story-Branding unterschieden. Brand Storytelling beschreibt für mich alle Geschichten, die eine Marke als Absender haben. Unter Story-Branding verstehe ich hingegen die strategische Absicht, eine Markenstory selbst, zu einem dauerhaften Markenmerkmal zu machen. Ein Gedanke der sich in ähnlicher Form in Jenni Romaniuks Ratgeber zum Markenaufbau mit dem Titel „Building Distinctive Brand Assets“ findet (vgl. Romaniuk (2019):110ff).
Im übertragenen Sinn kann man sich die Idee eines Narrativs als Markenmerkmal am Beispiel der James Bond Filme verdeutlichen. Die Marke James Bond basiert in ihrem Kern aus einem gleichbleibenden Narrativ: „Ein einzelner, verführerischer Agent mit Stil, Gadgets und der Lizenz zu töten, rettet die Welt.“
(Alle James Bond Trailer hintereinander. Dafür gibt es Youtube ;-))
Dieses Markenstory wird immer wieder neu inszeniert. Darum weiß das Filmteam jederzeit, dass es einen James Bond Film dreht. Und alle Kinogänger wissen, worauf sie sich einlassen. Und wie James Bond muss auch eine Markengeschichte die schwierige Balance zwischen Konsistenz und Zeitgeist halten, um sich im Gedächtnis des Publikums relevant zu bleiben. Mit dem Core-Story Sprint nutze ich ein etabliertes Format, um Teams beim ersten Entwurf dieser Story zu unterstützen.
Strategie. Mission.Vision: Auf eine Zukunft fokussieren.
Weit über das Marketing hinaus arbeitet jedes Team daran, die Zukunft des Unternehmens bestmöglich zu gestalten. Doch je mehr Menschen an einer Unternehmung beteiligt sind, desto wichtiger wird es, sich über die angestrebte Zukunft und den Weg dorthin genau abzustimmen. Zu diesem Zweck formulieren Unternehmen Pläne, Roadmaps, Strategien, Missionen, Unternehmensleitbilder und Vision-Statements.
In der betriebswirtschaftlichen Theorie mögen diese Konzepte klar voneinander abgegrenzt sein (siehe z.B. Gablers Wirtschaftslexikon). In der Praxis erlebe ich hingegen, dass die Begriffe oft synonym, inhaltlich verwaschen oder selbst-definiert genutzt werden. Wobei sich schnell eine intuitive Unterscheidung nach Zeithorizonten einstellt. Pläne und Strategien blicken tendenziell auf Zeithorizonte von drei Monaten bis fünf Jahren. Missionen und Visionen formulieren längerfristige Zukunftsvorstellungen.
Dabei ist es wichtig zu betonen, dass hier immer fiktionale Zukunftsvorstellungen formuliert werden. Gerade Pläne und Strategie-Erzählungen haben die gefährliche Tendenz, ihre eigene Fiktionalität zu verschleiern. Unterfüttert mit Zahlen, Daten, Fakten, Erfahrungswissen und Case-Studies wirken sie schnell wie „wissenschaftliche Erkenntnisse“ und suggerieren ein sicheres Eintreten der beschriebenen Vorstellungen.
Die Realität sieht anders aus: Jede umgesetzte Strategie besteht, so der Strategieforscher Mintzberg, sowohl aus den Anteilen, die zuvor erdacht und formuliert wurden, als auch aus “emergenten” Anteilen – also Situationen, Optionen und Entscheidungen, die erst auf dem Weg auftauchen und daher nicht prognostizierbar waren.
Darum sieht der Kommunikationswissenschaftler Christian Hoffman den entscheidenden Nutzen einer Zukunftserzählung , egal ob sie Plan oder Strategie genannt wird, in ihrer Anschub-Funktion.
Sie “sind keine abgeschlossenen Geschichten mit einem präzisen Mittelteil und einem konkretem Ende, sondern dienen als Anschub. Sie geben erzählerisch und planerische Leitplanken vor. […] Andere werden davon überzeugt , dass es sich Lohnt, Lösungen zu suchen, Antworten zu finden. […] Es wird zu einem “Sprung” ins Abenteuer aufgerufen, bei dem die Protagonisten in einen Lösungsraum eintauchen sollen“
(Christian Hoffmeister: Business Fiktion, Walhalla 2013, seite 38/39)
Die Fiktionalität anzuerkennen, bedeutet natürlich nicht bei der Entwicklung strategischer Handlungsoptionen auf eine gründliche Analyse zu verzichten. Informationen sind die Basis aller strategischen Entscheidungen. Doch darf keine Analyse verbergen, dass sich die Zukunft allein durch ihre Unvorhersehbarkeit auszeichnet. Jede Ableitung aus der Analyse, die zukünftige Handlungsoptionen und deren erwartete Ergebnisse beschreibt, ist im besten Fall ein „educated guess“.
Das macht Pläne, Strategie, Mission oder Vision als Narrative nicht überflüssig. Doch es verändert ihre Funktion: Wer ihre immanente Fehlbarkeit akzeptieren kann, erwartet oder kauft nicht länger geniale, kugelsichere Pläne von Meisterstrategen – oder ärgert sich über deren Scheitern.
Vielmehr wird die wahre Funktion formulierter Pläne, Strategien, Missionen und Visionen deutlich: Als Erzählung verstanden, vermitteln sie eine gemeinsame Vorstellung der angestrebten Zukunft. Die gemeinsame Ausrichtung auf eine Fiktion gibt den nötigen Anschub und hilft Teams, ihre Energie auf bestimmte Handlungsoptionen zu fokussieren. Diese Fokussierung erhöht die Wahrscheinlichkeit die Fiktion tatsächlich in die Realität umzusetzen.
Damit verschiebt sich auch die Rolle des Strategen. Es ist nicht sein Job, einen Masterplan abzuliefern. Vielmehr ist es seine Aufgabe ein Team zu enablen, eine gemeinsame Zukunftsvorstellung zu entwickeln. Eine Geschichte, die sie gemeinsam in Aktion bringt und hilft, die Arbeit, von der man jetzt schon wissen kann, dass sie höchstwahrscheinlich getan werden muss, sinnvoll zu organisieren. Das begrenzt auch den Umfang und die Qualität dieser Narrative: Strategie ist ein Märchen das verbindet. Sobald sie ein Team handlungsfähig machen, sind sie fertig. Manchmal reicht dazu ein Satz, mal braucht es hundert PowerPoint Folien. Nichtsdestotrotz muss die Geschichte vor allem eines: Überzeugen.
„Strategies are stories about the future, starting with imaginary fiction but with the aspiration to nonfiction. […] The purpose of such strategic story is not solely to predict the future but to convince others to act in such a way that the story will follow its proposed course. If it fails to convince, the inherent prediction will certainly be wrong.“
(Strategy. A History. Lawrence Freedman p.621)
Equity Story: Dressing up the bride
Egal ob Start-up oder Aktienunternehmen: Sobald ein Unternehmen mit potentiellen Investoren kommuniziert, gilt es das Gesamtunternehmen selbst als ein wertvolles Produkt mit prosperierender Zukunft darzustellen. Die Strategieberater Etzhold und Ramge bezeichnen die Erzählung, die dies leistet, als Equity Story.(vgl. Etzhold & Ramge 2014)
Die Equity Story spannt einen roten Faden über alle anderen Ausrichtungs-Narrative hinweg. Die Story hat drei Funktionen: Sie macht Produkte, Kompetenzen, Wachstum und Strategie des Unternehmens für Investoren verständlich. Sie macht zukünftiges Wachstum vorstellbar. Und steigert so bestenfalls die Bewertung des Unternehmens.
Um eine wirksame Equity Story zu formulieren, sind laut Etzhold und Ramge drei Fähigkeiten nötig:
“1. Potenziale für eine einzigartige Positionierung des Unternehmens erkennen.
2. Disperse Fakten und Storyelemente zu einer spannenden Geschichte formen.
3. Die Geschichte dem Adressaten so verkaufen, dass er sie abkauft.”
Allein nach der Geldmenge bewertet, sind “in keinem anderen Kontext Geschichten wertvoller als bei Venture Capital, (Private)Equity, M&A oder Börsengängen.” (Etzhold & Ramge 2014:VII)
Hier geht es schnell um viele Millionen. Schließlich wetten alle Investoren letztlich auf Basis der Geschichte auf den Unternehmenserfolg. Oder ziehen aufgrund einer platzenden Geschichte ihr Investment zurück. Besonders drastisch zeigt dies der Aufstieg und Fall von WeWork. Die „Future of Work“ – Geschichten brachten dem Coworking-Anbieter WeWork eine Milliarden-Bewertung. Die Geschichten über das unseriöse Verhalten des CEO verbrannten sie wieder.
Einen pragmatischen Einstieg in die Erarbeitung einer Equity-Story bietet sowohl das Buch von Etzhold und Ramge sowie dieser Artikel des y-Combinator über einen gelungenen Start-up Pitch.
Foresight Narrative: Eine Idee von der Zukunft
Vom Mitarbeiter bis zum CEO hat jeder eine Idee davon, wie sich der Markt und die Welt für ein Unternehmen entwickeln wird. Diese allgemeinen Zukunfts-Ideen zirkulieren für mich in Form von Foresight-Narrativen innerhalb eines Unternehmens. Sie beeinflussen Führungsentscheidungen und deren Bewertung durch die Mitarbeiter.
Für die Übersicht möchte ich zwischen offiziellen und inoffiziellen Foresight-Narrativen unterscheiden. Offizielle Foresight-Narrative werden von Zukunftsforschern, Strategie-Abteilungen, Unternehmensberatungen oder Trendforschungs-Agenturen entwickelt und als Entscheidungsgrundlage oder Trend-Report in den Unternehmensdiskurs eingebracht.
Die inoffiziellen Foresight-Narrative zirkulieren hingegen im Verborgenen. In ihnen mischen sich Mediendiskurse, individuelle Meinungen, Fakten, Bauchgefühl und Science Fiction. Trotzdem beeinflussen sie Entscheidungen. Ein schönes Beispiel sind Open-Space Büros. Obwohl die Forschung schon länger an der Idee zweifelt, sehen viele Unternehmensentscheider in diesem Raumkonzept die Zukunft der Arbeit (Hierzu gibt es einen schönen Artikel aus dem New Yorker).
Tiefgreifende Konflikte entstehen in diesen Bereich dann, wenn Management und Mitarbeiter fundamental andere Erwartungen haben, wie sich Markt und Welt weiterentwickeln. Digitalisierung und Klimawandel sind in meiner Wahrnehmung gerade die Zukunftsthemen, an denen sich solche Konflikte entzünden.
4.2 Die Stabilisierungs-Narrative: Zusammenhalt gestalten
Unternehmen sind immer auch ein sozialer Zusammenschluss von Menschen, die über einen bestimmten Zeitraum zusammenarbeiten. Solange noch keine künstliche Intelligenz den Laden übernommen hat, verbringen Menschen meist mehr Lebenszeit mit ihren Kollegen als mit der eigenen Familie. Und wie eine Stammesgesellschaft stabilisiert sich das soziale System Unternehmen über gemeinsame Geschichten.
Doch während über Ausrichtungs-Narrative oft laut gestritten wird, wirken die Stabilierungs-Narrative eher im Stillen. Dabei beeinflussen sie stark, wie Veränderungen in der Zukunftsausrichtung gesehen, bewertet, umgesetzt und gelebt werden. In die Übersicht habe ich drei Stabilisierungs-Narrative aufgenommen:
Die Unternehmenshistorie: Die alten Geschichten
So wie die Foresight-Narrative von der Zukunft erzählen, blicken die alten Geschichten in die Vergangenheit zurück.
Auch hier beobachte ich eine offizielle und eine inoffiziellePerspektive. Die offizielle Unternehmensgeschichte findet sich gerne auf der Webseite (z.B. bei Nestle). Sie muss nicht unbedingt geschönt sein, doch als bewusst formulierte, lineare Erzählung, ist sie meist von Ungereimtheiten, Konflikten und Brüchen bereinigt.
„Damals bei der Weihnachtsfeier….“ „Weißt Du noch, in dem Projekt haben wir das so gemacht…“ “Kannst du Dich noch erinnern, als….”
Die inoffiziellen Versionen der Vergangenheit sind meist farbenfroher. In den alten Geschichten leben Siege und Niederlagen genauso lebhaft weiter, wie Klatsch und Tratsch Ereignisse.
Jedes Unternehmen hängt an seinen alten Geschichten. Denn in der Vergangenheit steckt nicht nur das erworbene Erfahrungswissen. Eine geteilte Vergangenheit schweißt Gruppen vielmehr zusammen und stabilisiert das Miteinander. Dabei werden manche Geschichten so bedeutungswirksam für eine soziale Gemeinschaft, dass sie im kollektiven Bewusstsein eine Ebene tiefer wandern. Sie werden zu Kultur-Mythen: Zu Erzählungen, die regeln wie eine Gemeinschaft funktioniert.
Kultur-Mythen: So läuft das hier.
„In zwanzig Jahren haben wir noch nie eine Deadline gerissen.“ „Wir arbeiten hier wie eine große Familie zusammen.“ „Unser Chef hatte noch nie ein eigenes Büro“. „Wir verkaufen hier nicht unsere Seele.“ „Vom ersten Tag an waren wir immer eine Produkt-Firma.“
Kultur-Mythen sind die Erzählungen, die als (scheinbar) unerschütterliche Wahrheiten im Unternehmen zirkulieren. Über die Zeit trennen sie sich von ihrem Entstehungskontext und werden zum Träger dessen, was in einem Unternehmen wirklich heilig ist.
Gemeinsam mit sich wiederholenden Ritualen (z.b. dem wöchentlichen All-Hands Meeting, den gemeinsamen Mittagessen etc.) bilden Kultur-Mythen den Kern der Unternehmenskultur. Wobei ich Unternehmenskultur als das System vom geteilten Werten, Bedeutungen, Verhaltensregeln und Glaubenssätzen verstehe, welches, im kollektiven (Unter-) Bewusstsein der Mitarbeiter verankert, das tägliche Miteinander regelt.
Selbst in Unternehmen, die sich bewusst mit ihrer Kultur auseinandersetzen und kulturelle Erwartungen explizit machen, zirkulieren die meisten dieser Mythen informell zwischen den Mitarbeitern. Schon deshalb eiern neue Kollegen die ersten Tage planlos und unsicher über die Flure. Sie kennen schlicht die Mythen und Rituale noch nicht, die die sozialen Abläufe regeln.
Ich stelle mir die Kultur-Mythen wie die Seiten einer unsichtbaren Bibel vor. Mit dem ersten Arbeitstag schwört jeder Mitarbeiter implizit Loyalität auf diese Bibel. Denn nur wenn alle den Regeln folgen, gibt es Handlungssicherheit im täglichen miteinander. Entsprechend hart wird eine Verletzung der Regeln von der Gemeinschaft geahndet.
Mythen sind nötig, um die Gemeinschaft sozial zu stabilisieren. Schon deshalb haben sie eine natürliche Tendenz die Vergangenheit, lieb gewonnene Traditionen und Verlässlichkeiten zu beschützen. Widerstand entsteht immer dann, wenn eine Veränderung die mythische Ordnung in Frage stellt. Dieser Widerstand hat zwei Gesichter. Zum einen können Kultur-Mythen zum Hindernis des Fortschritts werden, wenn sie Innovationsprozesse behindern oder gar verhindern (“Das haben wir noch nie so gemacht”).
Sie können aber auch produktiven Widerstand erzeugen, und die Integrität der Gemeinschaft beschützen. So protestierte die Google-Belegschaft laut gegen einen Deal mit dem Pentagon. In der Wahrnehmung vieler Mitarbeiter war dieses Geschäft mit dem „Don’t be evil“-Mythos des Unternehmens nicht kompatibel. In diesem Fall reagierte das Management im Sinne des Mythos.
Auch andere Erschütterungen stellen die Kultur-Mythen und damit die soziale Stabilität des Unternehmens schmerzhaft in Frage. Zum Beispiel, wenn eine Kultur im Zuge einer Unternehmensübernahme in einer anderen aufgeht. Oder wenn Mythen im Zuge einer Internationalisierung auf lokale Gebräuche treffen, die nicht kompatibel erscheinen. Und gerade Start-ups erleben immer wieder, dass gerade der gewünschte Unternehmenserfolg und das damit verbundene Wachstum die bisher gelebte Kultur und ihre bis dahin liebgewonnenen Mythen und Rituale schmerzhaft in Frage stellt. Im schlimmsten Fall entbrennt in einem Unternehmen ein regelrechter „Story-War“. Alte und neue Mythen und ihre Fürsprecher ringen in einem Kulturkampf miteinander. Nicht immer ist ein Kompromiss möglich. Manchmal müssen die Vertreter der alten Welt das Unternehmen verlassen. Manchmal werden die Vertreter des Neuen aus dem Unternehmen gedrängt.
Kulturelle Veränderungen zu bewerkstelligen, erfordert daher stets mehr als die allgegenwärtigen Forderungen nach Veränderungsbereitschaft. Es braucht ebenso das Verständnis, dass Mythen und Rituale existieren, die für die soziale Gemeinschaft “heilig” sind. Um diese zu verstehen, braucht es viel Zeit und Aufmerksamkeit. Doch je klarer Mythen und Rituale dem Management sind, desto eher lassen sie sich steuern und sukzessive verändern.
Purpose-Story: Warum wir tun, was wir tun.
“To give people the power to build community and bring the world closer together.“ (Facebook)
“Empowering people to stay a step ahead in life and in business” (ING)
Die Purpose-Story erzählt von der Motivation, der Bestimmung und der inneren Haltung eines Unternehmens. Warum ist das Unternehmen gegründet worden? Wie möchte es die Welt verändern? Was ist es bereit dafür zu tun…und was nicht?
Seit einigen Jahren schillert der Begriff “Purpose” (mal als innere Haltung eines Unternehmen mal als Gemeinwohlorientierung definiert) durch die Marketing und Management-Literatur. Insbesondere der Management Guru Simon Sinek hat die Suche nach einem Unternehmens-Purpose populär gemacht und beschleunigt. In seinem Management-Ratgeber „Start with why“ (und dem dazugehörigen TedX-Talk), argumentiert Sinnek, daß Unternehmen und Führungskräfte dann erfolgreicher sind, wenn sie das “Warum” ihres Handelns kennen und kommunizieren können. Eine Überzeugung die Sinek mit vielen Beratern und Agenturen teilt. Purpose lohne sich auch wirtschaftlich, schreibt die Fachzeitschrift Werben und Verkaufen im November 2019 und bezieht sich auf die gemeinsame Studie einer Marken- und einer Mediaagentur.
Doch wie findet ein Unternehmen seinen Purpose? Sinek bietet dafür das Golden Circle Modell an. Es basiert auf dem Gedanken Unternehmenshandeln entlang der kausale Argumentationskette WHY (Warum), HOW (Wie), WHAT (WAS) zu formulieren. Wer das Modell genauer studieren möchte, der kann sich das folgende Video ansehen:
Ein (z.b. entlang des Golden Circles) ausformulierter Purpose ähnelt sprachlich zunächst den o.g. Zukunfts-Narrativen. Besonders dann, wenn Purpose auf ein Statement reduziert wird, verschwimmen die Grenzen zu Missions- oder Visions-Statements völlig. Einziges Differenzierungskriterium für mich ist dann noch die “Zeitlosigkeit” des Unternehmenszwecks. Wenn sich das Formulierte ohne Bauchschmerzen in der Satzung des Unternehmens auf ewige Zeiten verankern lässt, dann lässt sich von Purpose sprechen.
Mit den Jahren bin ich allerdings sehr skeptisch geworden, ob ein Purpose wirklich erfolgreicher macht. Ich habe Start-ups mit klarem Purpose scheitern sehen. Und sehe manche Unternehmen wachsen, denen Purpose ziemlich egal scheint. Die Erfolgserwartungen, die mit der Purpose-Idee verbunden sind, erscheinen mir durch einen Survivorship Bias verzerrt zu sein. Da (scheinbar) erfolgreiche „Purpose-Beispiele“ eine größere Sichtbarkeit bekommen als erfolglose, kann man schnell dazu neigen, die Erfolgsaussichten zu überschätzen. Dazu kommt, dass die Verfechter des Purpose vor allem Argumente und Cases anbringen, die die Wirkung bestätigen.
Wann immer eine Purpose-Diskussion auftaucht, frage ich mich: Ist ein Unternehmen erfolgreich, weil es einen Purpose hat? Oder suchen Unternehmen nach einem Purpose, weil sie erfolgreich sind? Denn ungeachtet des Wirkungsversprechens, kann ich eines mit Überzeugung sagen: Einen Purpose zu formulieren, erzeugt in einem Team große Klarheit, emotionale Sicherheit und Motivation. Und alleine das macht die Purpose-Story zu einem wertvollen Stabilisierungs-Narrativ. Zumal auch andere Stakeholder, denen vom Purpose erzählt wird, in der Regel positiv auf diese Erzählung reagieren.
Aber warum ist das so? Ich habe eine Theorie:
Purpose als narratives Konstrukt
Rein strukturell betrachtet, ist der Unternehmens-Purpose nichts weiter als ein Erzählung, die allen anderen Unternehmens-Narrativen eine kausale Klammer gibt. Deshalb spreche ich auch lieber von einer “Purpose-Story”. Eine Purpose-Story beginnt stets mit der Erkenntnis eines Problems oder Konfliktes in der Vergangenheit und endet mit der Imagination einer Welt, in der dieses Problem nicht mehr existiert. Aus dem Framing dieser Veränderungsmotivation lässt sich dann vergangenes, gegenwärtiges und zukünftiges Unternehmenshandeln sinnvoll kausal erklären.
Genau solche Kausalitäten liebt unser Gehirn. Seit Jahrtausenden ist unsere Wahrnehmung auf das Erkennen und Bewerten kausaler Zusammenhänge programmiert. Um in der Wildnis zu überleben, ist es für uns Menschen wichtig zu erkennen, wie Ursachen und Wirkung sinnvoll zusammenhängen.
Die ständige Sinnsuche passiert in einem Areal des Gehirns, das der Neurowissenschaftler Gazzaniga den “Interpreter” nennt. Der Interpreter, so eine Art Fußball-Kommentator im Kopf, ist ständig damit beschäftigt aus dem Spielgeschehen, den Sinneseindrücken und Handlungen eine sinnstiftende Geschichte zu schmieden.
Das Interpreter giert danach, alles Erlebten in kausale Zusammenhänge zu setzen, um ein kohärentes Weltbild zu schaffen. Ereignisse, als nicht zusammenhängend zu erleben, ist für den Interpreter kaum zu ertragen. Darum sind unbegründete Todesfälle oder wortlos abgebrochene Beziehungen besonders traumatisch. Darum darum stört es uns gewaltig, wenn Figuren in Filmen scheinbar grundlos handeln. Darum lassen sich die folgenden drei Worte nicht lesen, ohne vor dem inneren Auge eine Geschichte zu konstruieren: Banane. Kotze. Bier.
(Mehr zu den Zusammenhängen von Kausalität, Hirn und Storytelling findest Du unter anderem bei Gottschall (2012) und Storr (2019))
Vor diesem Hintergrund glaube ich, dass eine Purpose-Story bereits durch die erzeugte Kausalität ungemein beruhigt. Eine Why-How-What Argumentationskette (wie im Golden Circle beschrieben) ist erstmal ein narratives Begründungskonstrukt, das dem Interpreter Arbeit abnimmt. Diese „hirngerechte“ Zubereitung macht diese Narrative in der internen und werblichen Kommunikation so attraktiv: Realität ist komplex, tägliche Aufgaben sind gerne abstrakt oder gar eintönig. Da ist es wohltuend eine die Purpose-Story zu haben, die die tiefe Sehnsucht nach Ordnung, Kohärenz und Stabilität befriedigt. Selbst wenn das Handeln nicht unbedingt zum Erfolg führt, ergibt es zumindest einen Sinn.
Im besten Fall ist eine Purpose-Story sogar aus einem authentischen Antrieb heraus formuliert. Im schlechtesten Fall ist es nur ein rhetorischer Trick, der einen tieferen Sinn vorgaukelt oder gar unmoralisches Handeln rückblickend rechtfertigt. Beides wird beim Empfänger zunächst ein gutes Gefühl auslösen. Schließlich bekommt jeder im Unternehmen eine Antwort auf die drängende Frage nach dem Warum.
Unternehmensrealität als narratives Gewebe verstehen
Vision. Purpose-Story. Produktgeschichten. Kulturmythen: Die zentralen Unternehmens-Narrative sind wie ein Mantel, der jeden Mitarbeiter umgibt. Ein Mantel, an den man sich so sehr gewöhnt hat, dass man ihn meist gar nicht mehr bemerkt. Wie Menschen ihre Unternehmensrealität wahrnehmen und gestalten, wird zu einem großen Anteil von dem “narrativen Gewebe” beeinflusst, das sie umgibt. Was wir einander erzählen, kann Zusammenarbeit beflügeln oder Probleme verursachen.
Letztere nehmen erfahrungsgemäß mit dem Unternehmenswachstum zu. Frei nach Harari gilt letztlich: Je größer der Stamm, desto wichtiger werden die mythischen Erzählung. Ein Start-up oder Projektteam von fünf Leuten handelt Ausrichtung und Stabilität vielleicht nicht am Lagerfeuer aus, sicher aber in täglichen Gesprächen oder beim Feierabend-Bier. Das passiert meist nebenbei, intuitiv, natürlich – und kann trotzdem manchmal mal kompliziert werden.
Bei 30, 300, 30.000 oder 300.000 Mitarbeitern sieht die Situation ganz anders aus. Mit der Unternehmensgröße nimmt zwangsläufig der Management-Aufwand zu, um einigermaßen „Herr der eigenen Geschichten“ zu bleiben. Und dafür braucht es zumindest eine grobe Übersicht des narrativen Gewebes.
Doch wie jede Übersicht zeigt auch diese nur einen kleinen Ausschnitt der Realität. Die hier skizzierten Narrative sind bei weitem nicht alle Erzählungen, die in Unternehmen wirken. Ich habe den alltäglichen Klatsch und Tratsch ausgeklammert, ebenso Projekt-Geschichten, PR-Stories oder Werbekampagnen. Auch auf die Erzählungen die Fach- und Führungskräfte nutzen, um ihre Anliegen zu voranzubringen, bin ich nicht eingegangen. Genauso wenig habe ich die Geschichten betrachtet, die im Recruiting erzählt werden, um Bewerbern ihre Chancen und ihren Impact im Unternehmen schmackhaft zu machen.
Am Ende geht es darum, sich das narrative Gewebe bewusst zu machen, das wir brauchen, um sinnvoll zusammenarbeiten zu können. Um gemeinsam eine Unternehmung zu realisieren, müssen Teams ihre Vorstellungen teilen und die anfallende Arbeit über Absprachen organisieren. Dafür braucht es Geschichten und fiktionale Sprache. Allerdings muss die anfallende Arbeit dann auch gemacht werden. Das ist der eine Aspekt den Harari irgendwie ausklammert. Anders als Andre Leroi Gouran, der schon 1964 seine Version der Menschheitsgeschichte veröffentlicht hat. Sein Buch trägt im Titel zwei Fähigkeiten, die den Homo Sapiens produktiv machen. Der Titel des Buches lautet: Hand und Wort.
Quellen:
Yuval Harari (2013): Eine kleine Geschichte der Menschheit, München: Random House
Jenni Romaniuk (2018): Building Distinctive Brand Assets, Melbourne: Oxford University Press
Henry Mintzberg and James A. Waters (1985): Of Strategies, Deliberate and Emergent. Strategic Management Journal
Vol. 6, No. 3 (Jul. – Sep., 1985), pp. 257-272
Veit Etzhold, Thomas Ramge (2014): Equity Storytelling. Mit der richtigen Story den Unternehmenswert erhöhen. Wiesbaden: Springer Gabler
Jonathan Gottschall (2012): The Storytelling Animal. How Stories make us human. Boston: Houghton,Mifflin, Harcourt
William Storr (2019): The Science of Storytelling. London: William Collins
Andre Leroi Gouran (1964/1987):Hand und Wort: Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst. Suhrkamp